Petrus

Württembergische Blätter für Kirchenmusik

„Aus der Praxis für die Praxis“

 

Oratorium Petrus von Manuela Nägele

 

Musik: Manuela Nägele

Texte: BasisBibel

Mit Stilelementen aus Klassik, Klezmer, Pop und Jazz

Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden

 

Manuela Nägele (Stuttgart) hat erneut zur Feder gegriffen und mit Petrus ein mitreißendes abendfüllendes Oratorium für Chor, Kinderchor, Vokalsolisten und Orchesterensemblegeschrieben, das am 16. Oktober 2016 unter dem Dirigat der Komponistin seine Uraufführung erfuhr. Der namensgebende Protagonist Petrus, dessen spannungsreiche Geschichte bis nach Jesu Tod und Auferstehung erzählt wird, ist hier die zentrale Identifikationsfigur für die Gemeinde, an der sie sich und ihren Weg zu Gott spiegelt.

 

Petrus ist in der kanonischen Chorliteratur bisher noch nicht mit einem eigenen Oratorium bedacht worden, obwohl sich diese spannungsreiche Gestalt in der Vielfältigkeit ihrer Entwicklung geradezu als Stoff anbietet. Manuela Nägeles anspruchsvolle Komposition spiegelt musikalisch die Ambivalenz dieser zentralen Figur des Neuen Testaments: Von dichten Wechseln in Rhythmus, Tempo und Stilen – auch innerhalb einzelner Teile – gekennzeichnet, erfordert das Stück eine wache Präsenz aller Ausführenden. Das Oratorium ist episodisch-thematisch in einzelne Abschnitte unterschiedlichen Umfangs gegliedert. Neben charakterstarken Motiven der Komposition und einer ganz eigenen Tonsprache, zu der immer wieder sphärische Clusterklänge – kombiniert oder kontrastiert mit klassischem Orchester- und Chorklang – gehören, setzt Manuela Nägele wirkungsvoll thematisch passende Wiedererkennungsmomente ein, die dem Publikum einbindende Anknüpfungspunkte bieten. So erklingen nicht nur bekannte Luther-Choräle, sondern als Teil der motivischen Arbeit auchAnklänge an Gregorianik oder traditionelle Melodien wie Nun komm, der Heiden Heiland, Vom Himmel hoch, da komm ich her, Christ ist erstanden oder Amazing Grace. Die u. a. aus J. S. Bachs Oratorien bekannte Verleugnungs- und Passionsgeschichte ist in Nägeles Petrus insgesamt sehr rezitativisch-solistisch angelegt. Der Chor agiert dabei abschnittsweise teils singend, teils sprechend, flüsternd, zeternd. Auch das Krähen des Hahns ist – auf eigene Art und Weise – vertreten. Hier wird eine eindrucksvolle, moderne Fassung der vielfach vertonten Passage präsentiert.

 

Als moderne Komposition aus dem Bereich der Kirchenmusik ist das Stück weder ein rein gefälliges Pop-Oratorium noch überfordernd für die Ausführenden oder unzugänglich für das Publikum. Es handelt sich dabei vielmehr um ein intelligentes, sinnerfülltes und gleichzeitig mitreißendesPatchwork aus verschiedenen Stilen, dem es gelingt, Elemente der E- und der U-Musik geschickt miteinander zu verbinden und die Geschichte anschaulich zu vertonen. Das Oratorium ist rhythmisch gleichermaßen herausfordernd wie ansprechend und sowohl in seiner teils turbulenten Handlung als auch in der emotionalen Reflexion darüber überaus anspruchsvoll. Viele werden sich in dieser Musikin all ihrer Stilvielfalt wiederfinden, auf der Seite der Ausführenden ebenso wie auf der des Publikums.

Klug ist die ganz bewusste Wahl der BasisBibel als Textgrundlage, deren „Sprache […] konsequent dem Prinzip der ‚linearen Informationsvermittlung‘ [folgt]. […] Langatmige Schachtelsätze und umständliche Erklärungen sind damit von vornherein ausgeschlossen“ (Über die BasisBibel; www.basisbibel.de/ueber-die-basisbibel/). Mit dieser Entscheidung bewirkt die Komponistin, dass nicht bereits die Sprache eine Barriere für den Zugang zu Stück und Inhalt darstellt; zugleich erhält diegesamte Erzählung einen frischen, modernen Anstrich, ohne dabei jedoch banal zu wirken – im Gegenteil: Eine ungewohnte, ergreifende Unmittelbarkeit ist der Effekt.

 

In Nägeles Oratorium tauchen die Hörer bereits mit der Ouvertüre in eine vielfältige Klangwelt ein, die über das gesamte Stück hinweg immer wieder ihren Stil wandelt, zu Altem zurückfindet, Neues entdeckt und ständig Überraschungen bereithält. Diese klangliche Flexibilität und die Möglichkeit zu einem collageartigen Stilmix mit Elementen aus Klassik, Klezmer, Pop und Jazz wird durch die intelligente Wahl der Orchesterzusammensetzung ermöglicht: Das 15-köpfige Instrumentalensemble besteht zum einen aus einem „klassischen“ Teil – Streicherensemble (2 Violinen, Viola, Violoncello, Kontrabass), 1 Flöte, 1 Oboe, 1 Klarinette (alternierend Saxophon), 1 Horn, 1 Trompete, 1 Posaune; ergänzt wird es nun aber zum anderen durch Klavier und – mit drei Spielern sehr reich besetzter – Percussion, u. a. mit Marimba, Glockenspiel, großer Trommel und Drumset. Diese Orchesterbesetzung macht es möglich, stellenweise ein kleines Sinfonieorchester zu simulieren, dann aber auch wieder zum Klang einer Jazz-Combo zurückzufinden – oder eben beides zu verbinden. Die rhythmisch wie spielerisch anspruchsvolle Orchesterpartitur enthält sowohl orchestrale als auchprominente solistische Passagen, in denen sich die einzelnen Instrumente, teils solistisch, teils in klassischer durchbrochener Arbeit, präsentieren. Für eine gelungene Aufführung sollte das Orchesterzumindest mit semiprofessionellen Instrumentalisten, besser aber mit Berufsmusikern besetzt werden.

 

Die Chorpartitur für gemischten, 4-stimmigen Chor ist dagegen von Manuela Nägele als Chorleiterin mit jahrzehntelanger Erfahrung so angelegt, dass sie zwar anspruchsvoll und rhythmisch spannend,aber – bei entsprechender Probenarbeit – auch für einen Laienchor gut zu bewältigen ist. Petrus ist ein Stück, das man gerne probt und zur Aufführung bringt, das einen auch als Ausführenden im positiven Sinne ‚mitnimmt‘. Die Dauer für das Einstudieren der Chorpartie ist mit etwa einem halben Jahr anzusetzen. Aus dem Chor sind darüber hinaus sechs kleinere Soli zu besetzen, die, besonders wenn eine Jugendkantorei o. Ä. vorhanden ist, von Laien gut zu bewältigen sind.

Eine wichtige Rolle spielen die zehn in die Komposition eingestreuten Luther-Choräle, die die dichte Handlung des Oratoriums reflektieren. Sie sind in der Partitur für Kinderchor gedacht, was eine weitere Klangwelt der Ursprünglichkeit und Reinheit eröffnet. Die Choräle können aber auch solistisch oder durch ein kleineres Vokalensemble besetzt werden.

 

Schließlich sind drei umfangreiche, stilistisch vielseitige und sängerisch anspruchsvolle männlicheSolopartien vorgesehen: Petrus (Bass), Evangelist (Bass), Jesus (Tenor). Sie erfordern professionelle Sänger, da die Rollen entsprechende rhythmische, artikulatorische und stimmliche Herausforderungen bergen. Petrus ist auch musikalisch durch seine Zerrissenheit gekennzeichnet, der Evangelist hat die größte Textmenge zu bewältigen; die Partie des Jesus ist gleichermaßen lyrisch wie strahlend angelegt und verlangt dem Solisten stimmlich wie interpretatorisch großes Können ab. Der kompositorische Kniff, die konventionelle Stimmverteilung Evangelist – Tenor, Jesus – Bass zu tauschen, und die ungewöhnlich große Rolle des Letzteren innerhalb des Oratoriums macht Jesus in Nägeles Stück zum eigentlichen Helden, der darüber hinaus den Bogen zwischen Anfang und Ende spannt.

 

Aufführungspraktisch empfiehlt es sich, eine Verstärkeranlage zur Unterstützung der Solisten und des Kinderchores einzusetzen. Je nach Größe des Kinderchores kann sie sehr sinnvoll sein und helfen, besonders exponierter Lagen, auch in der Tiefe, gut über das Orchester hinweg zu tragen. Auch die Solisten sollten im Sinne der Textverständlichkeit idealerweise durch eine leichte Verstärkung unterstützt werden; die Entscheidung dafür oder dagegen hängt aber letzten Endes ganz von den individuellen Gegebenheiten wie der Größe des Gesamtensembles sowie des Aufführungsraumes ab. Eine Bühne ist nicht notwendig, da das Werk nicht als szenische Inszenierung angelegt ist. Einfache Beleuchtungseffekte, wie etwa das Hervorheben des Kinderchores oder auch einzelner Vokalsolisten,können schön sein, sind aber rein fakultativ.

 

Neben der Freude, die Manuela Nägeles Petrus allen Beteiligten von der ersten Probe bis zur erfolgreichen Aufführung mit großer Sicherheit machen wird, und dem musikalischen Reiz, der der Komposition innewohnt, ist ein weiterer, ganz praktischer Pluspunkt dieses Stückes, dass es – ähnlich wie Händels Messias – immer ‚aktuell‘, da im Kirchenjahr jederzeit aufführbar und nicht anlassgebunden, ist, einen Abriss über eine Vielzahl neutestamentlicher Themen gibt und Jesu Wirken – über seinen Tod hinaus – an der Figur des Petrus ziemlich umfassend spiegelt.

 

Text von Thomas Stichler